"Flüchtiger Schatten"
Mortis Leben begann schon früh im Schatten ihrer Elterntrennung. Mit nur einem Jahr wurde sie beim Vater und seiner neuen Frau großgezogen. Ihre Mutter, die oft in ihrer Erinnerung als warmherzige Gestalt schimmerte, war nur sporadisch in ihrem Leben präsent – ein flüchtiger Schatten, der immer wieder auftauchte und dann verschwand.
Im Alter von zwölf Jahren fand Morti eines Tages nach der Schule einen Brief im Briefkasten. Die Aufregung durchflutete sie, als sie erkennte, dass er von ihrer Mutter stammte. Gezeichnet mit einer liebevollen Handschrift, die sie seit ihrer frühen Kindheit vermisste, las sie die Zeilen voller Sehnsucht und Hoffnung. Mortis Herz klopfte schneller, als sie daran dachte, ihre Mutter bald wieder zu sehen.
Doch als sie voller Freude nach Hause kam und ihrem Vater von dem Brief erzählte, verwandelte sich ihre Aufregung blitzschnell in Angst. Sein Gesicht verfinsterte sich, und er schrie: „Warum freust du dich darüber? Sie hat uns schon lange verlassen!“ Morti war perplex und verletzt. Warum durfte sie sich nicht freuen, ihre Mutter zu hören? Dennoch wurde ihr schnell klar, dass jede Begegnung mit der Mutter von Streit und Anspannung begleitet war.
Jedes Mal, wenn sie den Mut aufbrachte, eine Frage zu stellen oder sich auf ein Treffen zu freuen, endete es in einem Schreien, in Vorwürfen und in schmerzhafter emotionaler Manipulation. Ihr Vater schob ihr ein schlechtes Gewissen ein und redete ihr ein, dass es falsch sei, ihre Mutter zu vermissen. Morti fühlte sich gefangen zwischen den beiden Welten – der Liebe zur Mutter und der Loyalität zum Vater.
Die Jahre vergingen, und Morti lernte, ihre Sehnsüchte geheim zu halten. Immer mehr Briefe erhielt sie von ihrer Mutter, und sie las sie heimlich in der Dämmerung, um den Schmerz ihres Vaters zu vermeiden. Diese heimlichen Schriften wurden zu ihrem Lebenselixier – eine Flucht aus der erdrückenden Realität, mit der sie lebte.
Es war an einem nebligen Samstag, als sie beschlossen hatte, ihre Mutter zu besuchen. Herzklopfen und Aufregung begleiteten sie auf dem Weg zum vereinbarten Treffpunkt, einem kleinen Café am Stadtrand, wo ihre Kindheitserinnerungen mit der Mutter blühten. Doch die Ungewissheit nagte an ihr; was würde ihr Vater sagen, sollte er es herausfinden? Sie atmete tief ein, als sie das Café betrat.
Ihre Mutter saß in einer Ecke, die gleichen warmen Augen, die sie aus alten Fotos gekannt hatte, blickten sie an. „Morti! Ich habe dich so vermisst!“ Die Umarmung war intensiv und erfüllte Mortis Herz mit einem Gefühl der Vollständigkeit, das sie seit Jahren vermisste. Doch wie vorhergesagt, kam der Streit schnell.
„Wie kannst du dich nur freuen, sie zu sehen? Nach all den Jahren?“ Der Vorwurf kam in einem Anruf, als Morti nach Hause kam. Ein Sturm von Emotionen tobte in ihrem Inneren. "Ich liebe sie, Papa! Warum verstehst du das nicht?" antwortete Morti, die Tränen in den Augen, während sie an ihre Mutter dachte, die nur einen Brief entfernt war.
Die Konflikte zwischen den Eltern spitzten sich schließlich zu, und Morti fühlte sich immer mehr von beiden Seiten eingeengt. Sie entwickelte einen Plan. Sie würde ihre Mutter heimlich kontaktieren, ohne dass ihr Vater es herausfand. Morti begann, auch nachts zu schreiben, um ihrer Mutter von ihren Sehnsüchten und ihren Kämpfen zu erzählen, und erhielt Antworten, die mehr Hoffnung als Enttäuschung waren.
Doch es dauerte nicht lange, bis ihr Vater Verdacht schöpfte. Eines Nachts, als Morti im Bett lag, hörte sie das Geräusch der Tür, die leise geöffnet wurde. Sie erstarrte, als ihr Vater ins Zimmer trat und mit einem bösen Blick auf sie hinuntersah. „Was machst du hier? Schreibst du wieder an sie?“ Morti wagte es nicht zu lügen, und ihre Welt zersplitterte in diesem Moment.
„Ich kann es nicht mehr ertragen! Sie ist meine Mutter!“ schrie sie, während die Tränen über ihre Wangen liefen. In diesem Augenblick wusste sie, dass die Wahrheit ans Licht kommen musste. Sie musste die Kontrolle über ihre eigene Geschichte zurückgewinnen.
Mit all den Mut, den sie aufbringen konnte, konfrontierte sie ihren Vater. Morti erklärte ihm unmissverständlich, dass sie ihre Mutter lieben durfte, ohne dabei ihre Loyalität zu ihm zu verlieren. Die Worte flogen wie Pfeile, und sie spürte, dass etwas in ihm zerbrach. In den nächsten Tagen musste sie die schmerzhafte Wahrheit akzeptieren – manchmal, musste man für die eigene Wahrheit kämpfen, egal wie sehr die Bindungen schmerzen mochten.
Endlich stellte Morti die Verbindung zu ihrer Mutter wieder her, und sie erlebten eine neue Art von Beziehung. Die vergangenen Jahre des Streits und des schlechten Gewissens wurden durch eine aufrichtige Kommunikation ersetzt. Morti lernte, dass es keinen Grund gab, sich schuldig zu fühlen, Liebe zu empfinden, egal in welcher Form.
Obwohl der Prozess schmerzhaft war, wuchs Morti in ihrer Freiheit und Selbstakzeptanz. Schließlich konnte sie sowohl ihre Eltern als auch sich selbst annehmen, ohne dass das Grauen der Trennung ihr Herz zerfetzen musste.